Da wollte ich meine g’scheite Liste an Maßnahmen zur Hebung der Qualität von Leser-Diskussionen in Online-Zeitungen posten, habe es dann aber bei der Einleitung belassen und das ganze als Frage an meine Leser formuliert: Sind abfällige Kommentare Naturgesetz?
Das hab ich davon – alle meine cleveren Ideen sind jetzt dabei (vor allem von Luca Hammer) genannt worden. Jetzt wird mir keiner glauben, dass ich selber drauf gekommen bin..
Womit auch schon ein Grund identifiziert wäre, warum das so schwierig ist mit dem Diskurs in Online-Medien: Journalisten wollen nicht Fragen stellen, sie wollen clever wirken. (Blogger eh auch, nur wurden wir halt von Anfang an in der Kommentarkultur sozialisiert.)
Worum geht’s?
Es sind meines Erachtens vier Faktoren, die das Niveau der Diskussionen auf einer Plattform bestimmen:
- Wie wichtig ist Reputation und Identität eines Kommentierenden?
- Wie wird moderiert?
- Wie aktiv sind die Mitarbeiter der Redaktion – insbesondere der Autor eines Artikels – in den Diskussionen?
- Welchen Effekt erzielen Trolle und Kampfposter?
1. Identität und Reputation
Aber zuerst zur Theorie. Wenn die Betreiber eines Online-Forums höfliche und inhaltlich differenzierte Beiträge erreichen möchten, müssen sie sich mit den beiden Motiven auseinander setzten, die User dazu bewegen, sich kooperativ zu verhalten:
- Die Erwartung, selbst von der Kooperation anderer zu profitieren (“Anticipated reciprocity”)
- Die eigene Reputation
(Das ist nicht auf meinem Mist gewachsen, sondern stammt von Menschen wie Peter Kollock und Howard Rheingold, die sich wissenschaftlich mit dem Thema beschäftigt haben. Mehr zb. hier.)
Die Erwartung, selbst von der Kooperation anderer zu profitieren, ist hier ein eher zu vernachlässigender Faktor, das trifft mehr auf Support-Foren zu. (Wobei sich die Teilnehmer eines gut laufenden Forums einer Online-Zeitung auch Hilfestellung bieten, sei es bei Quellentipps oder bei Artikeln wie “Launch von Windows 7”, die zu Support-Foren werden.) Sehr viel wichtiger ist das Thema “Reputation“. Sie ist der Dreh- und Angelpunkt funktionierender Partizipation in Online-Medien.
Die Voraussetzung für den Aufbau von Reputation ist Identität. Je stärker die Identität eines Benutzers mit seinem Verhalten in der Vergangenheit verknüpft ist, desto mehr kann auf Reputation gebaut werden. Die Soziologie nennt das “Record of previous behaviour” (Axelrod, 1984).
2. Aufbau von Identität
Zum Aufbau von Identität fallen mir drei Maßnahmen ein:
- Die stärkste Bindung der Identität eines Users an seine vergangenen (und zukünftigen) Handlungen ist sein echter Name, idealerweise mit einem Foto. (Gilt besonders für Lokalmedien!) Das verbindet online Geschriebenes mit dem sozialen Umfeld des Users. Echtnamen sind nicht unbedingt notwendig, aber es empfiehlt sich, ihre Verwendung durch Vorbildwirkung und durch einfache technische Maßnahmen wie eine Facebook-Connect-Integration zu fördern. Selbst das Wording des Registrierungsformulars spielt eine Rolle. (Echtnamen sind übrigens einer der Erfolgsfaktoren von Facebook und Xing.)
- Die zweitstärkste Bindung zwischen Identität und Vergangenheit ist die Verlinkung mit der Online-Identität des Users, also konkret zb. die Verlinkung des Benutzernamens mit einer Facebook- oder Twitter-Identität oder mit einer Weblog-URL. Weblogs funktionieren so.
- Und drittens ist es ratsam, das vergangene Verhalten eines Benutzers (besonders sein positives) thread-übergreifend sichtbar zu machen. Das kann (abgesehen von Reputationssystemen, siehe unten) recht einfach über eine Beitragsübersicht zu jedem User erreicht werden.
3. Verhaltensregeln und automatisierte Erhebung ihrer Einhaltung
Ein Reputationssystem muss in der Folge dafür sorgen, dass gute Inhalte implizit belohnt und schlechte bestraft werden. Dazu muss erst festgehalten werden, was “gut” ist. Das sollte in einer Kommentar-Policy, quasi einem “Ehrenkodex”, festgeschrieben und prominent von jedem Kommentarformular aus verlinkt werden. (In Urzeiten des Internets nannte man das Netiquette.) Ein gutes Beispiel ist die Comment-Policy der Huffington Post, laut der zb. selbst sachliche Kommentare verpönt sind, wenn sie off-topic sind. Reputationssystem bedeutet, über die Bewertung von Beiträgen durch andere Benutzer und/oder Moderatoren (auf Basis der publizierten Policy!) einen Wert (oft “Karma”) für jeden User zu berechnen. Diesen kann man beispielsweise dazu nutzen, um zu unterscheiden, wessen Beiträge vormoderiert werden müssen und wessen nicht, um besonders verdiente Mitglieder der Community zu kennzeichnen (Ã la “Verkäufer mit Top-Bewertung” bei Ebay) oder um anderen Benutzern die Möglichkeit zu geben, Beiträge von Autoren unter einem gewissen Karma-Schwellwert gar nicht erst anzuzeigen (wie Slashdot das macht). Fortgeschrittene Reputationssysteme berücksichtigen auch den Karma-Wert des bewertenden Benutzers, von dem abhängt, welcher Wert an den zu bewerteten vererbt wird. (Auch Googles PageRank funktioniert so.)

Keinesfalls sollte man negative Werte visualisieren, wie das zb. DerStandard.at macht (siehe Screenshot). Damit belohnt man Trolle, absolut kontraproduktiv. Die goldene Frage bei Reputationssystemen ist, wie man Feedback einholt. Hier ist oft der Wortlaut entscheidend. Ein “Thumbs up” Ã la Amazon oder ein “Gefällt mir” Ã la Facebook führt bei Nachrichtenmedien zur ideologischen Selektion, das hat nichts mit der Kommentar-Policy zu tun. Besser wäre irgendetwas im Sinne von “(Un-) Sachlich enstprechend der Kommentar-Policy“.
4. Reputation durch Autorität
Eine zweite Methode zur Etablierung von Reputation ist Autorität, die unabhängig von der Bewertung der Inhalte über das Vertrauen zwischen Benutzern ermittelt werden kann. Die Huffington Post hat dafür die Möglichkeit geschaffen, “Fan” eines anderen Benutzers zu werden (siehe Screenshot). Bei Twitter leitet sich Autorität aus den Follower-Zahlen ab (bei aller Beeinflussbarkeit). Diesen Wert kann man auch in die Karma-Bewertung einfließen lassen, vor allem aber sollte man ihn visualisieren. Benutzer mit hoher (sichtbarer) Autorität überlegen sich zweimal, ob sie die Grenzen der Gepflogenheiten überschreiten. Benutzer mit wenig Autorität hingegen werden weniger ernst genommen und schaffen es daher weniger leicht, zu provozieren. Umgekehrt kann eine Blockfunktion, mit der eingeloggte Benutzer andere Benutzer pauschal ausblenden, dazu führen, dass Trolle ins Leere laufen und vor allem für die Moderatoren viel leichter (und objektiver) identifizierbar sind.

5. Moderation von Inhalten
Viele Online-Medien investieren nicht unwesentliche Summen in Schwärme von Praktikanten, die den ganzen Tag Kommentare moderieren. Meines Erachtens in diesem Umfang nicht nur Geldverschwendung sondern auch ein Hemmnis für eine gepflegte Unterhaltung: Wenn der eigene Kommentar nicht nur verspätetet sondern auch an gänzlich anderer Stelle erscheint, als gedacht, zerfranst die Diskussion, wird unübersichtlich. Ist erst mal ein solides Reputationssystem etabliert, ist Pre-Moderation bei etablierten Benutzern (die meist die Mehrheit der Inhalte beisteuern) nicht mehr nötig. Hier reicht eine Meldestelle (“Inhalt melden”, siehe Screenshot der Huffpost), mit der andere Benutzer auf grobe Verstöße aufmerksam machen können, sowie eine aktive Beteiligung des Autors an der Diskussion (siehe unten). Pre-Moderation ist dann nur noch für neue Benutzer sowie solche mit schlechtem “Karma” nötig. Im Online-Standard gehen pro Wochentag 13.000 Kommentare ein. Viele davon müssen – trotz “Foromat” – moderiert werden – das birgt also enorme Einsparungspotentiale.
6. Partizipation des Autors
Vielleicht das Wichtigste, weil es keine technischen Fragen sondern die Frage des journalistischen Grundverständnisses betrifft: Die Autoren von Artikeln sind in den meisten Online-Medien kaum bis gar nicht präsent. Doch wie Menschen, die sich in Bahnhofshallen eben noch lauthals daneben benahmen kurz darauf in deinem Wohnzimmer höflich und zurückhaltend sind, so verhält es sich auch im Web: Im öffentlichen Raum eines Online-Forums verhalten sich Menschen instinktiv anders als zb. im persönlichen Raum dieses Weblogs. So auch in Online-Zeitungen: Sobald die Autoren sichtbar sind – mit Name, Foto, “Autorität” (zb. Fans) und gerne visuell hervorgehoben (siehe Screenshot der Huffpost) – und auf Augenhöhe selbst mitdiskutieren bzw. zumindest Fragen beantworten, wird der Ton merklich zurückhaltender. Luca nennt das die Partizipation des Autors. Noch stärker wird die Präsenz des Autors, wenn der Text selbst auch Fragen aufwirft und offen lässt, und die Diskussion darunter nicht auf den Streit reduziert wird, ob die eine im Artikel erwähnte Partei recht hat oder die andere. Siehe den Artikel, auf dem dieser basiert, als Beispiel.
7. Umgang mit Trollen
Zuletzt noch zu den Trollen, also denjenigen, die nur um der Diskussion willen diskutieren, und entsprechend bei jeder Gelegenheit provozieren wollen. Hier hilft die Richtlinie der Kommentar-Policy (die jeder kennen muss!) sowie als Ventil die Möglichkeit, jemand mieses “Karma” zu verpassen, jemand zu blockieren oder in groben Fällen gar zu melden. Nichts von dem bekommt der Troll mit, die Motivation fällt also weg. Im Notfall greift ein Moderator oder ein User mit hoher Autorität ein und erinnert die vom Troll Provozierten an die alte (in der Policy unbedingt aufzuführende) Regel “Trolle bitte nicht füttern” (also ignorieren).
Wenn man zudem Postings unter einem gewissen Karma-Schwellwert (siehe oben) ausblendet (einblendbar, also keine Zensur), werden Troll-Posting überhaupt erst nur von wenigen Leuten gesehen.
Post Scriptum
Anita Zielina von DerStandard.at schreibt in einem Kommentar:
Viele ”“ sicher gut gemeinte ”“ Ideen zur Kommunikation mit den Usern etc lassen sich wahrscheinlich hervorragend auf einem Blog mit ein paar hundert Postern/Postings und ein paar Artikeln pro Tag umsetzen. Allerdings ist das bei einer Onlinezeitung schon noch mal etwas anderes. Ich gebe zu bedenken dass etwa bei derStandard.at täglich (!) rund 13.000 Postings eingehen und hunderte Artikel publiziert werden.
Liebe Anita, ich gebe zu bedenken: Wenn Google es schafft, auf ihren Ergebnisseiten, die sich aus 21 Miliarden Webseiten zusammensetzen, für Qualität zu sorgen, dann sollte das der Standard mit seinen 13.000 Postings pro Tag auch schaffen.
Ein herzliches Danke für die vielen Inputs in den Kommentaren zu meiner ursprünglichen Frage an Luca Hammer, Thomas R. Koll, Markus Widmer, Philipp Sonderegger, Walter Krivanek und all den anderen!
Illustration: Weblogcartoons.com